Bavarität – Outtakes part 6

Dieser Beitrag ist eigentlich kein Outtake im eigentlichen Sinn, denn es gab keinen Text zu dem Phänomen, das ich als "Urbanism according to Heino Ferch" entdeckt zu haben glaubte und das womöglich für "Bavarität" in Frage gekommen wäre. Doch es steckte Arbeit in diesem, nennen wir es mal Projekt, das während des Lockdown im Norden Münchens entstand. Und mir ist es wichtig, diese Arbeit nicht zu vergessen. Es folgen also Erinnerungen an 2020:

Während des Lockdown konnte man nicht viel mehr tun als zu arbeiten, Serien zu streamen oder durch das Quartier zu streifen, um frische Luft zu schnappen. Nun gehört insbesondere letzteres unter dem Namen "Derive" zu den Kernkompetenzen aller Urbanisten. Eine fremde Stadt zu Fuß zu erkunden ist nach wie vor der beste Weg, einen Eindruck von ihren Bauten und ihren Bewohnern zu bekommen. Kurz gesagt, so lernt man die Kultur einer Stadt kennen. Dieses Wissen einer Bestandsaufnahme zu unterziehen, zu revidieren und zu korrigieren findet statt, wenn man die Methode des Derive auf eine Stadt anwendet, die man zu kennen glaubt. Das kombiniere man mit dem pandemischen Opportunismus, ein möglichst unlangweiliges Projekt zu initiieren, auf dass man von der trockenen Realität der Quarantäne so gut wie nur möglich abgelenkt sein könne, und schon sieht die Welt ganz anders aus.
Der Flaneur flaniert also und lernt dabei Neues. In meinem Fall waren es ausgedehnte Spaziergänge durch den Norden Münchens. Bald fiel mir auf, dass es ja noch Litfaßsäulen gab. Die Litfaßsäule ist, seitdem sie Mitte des 19. Jahrhunderts zusammen mit dem Flaneur erfunden wurde, ein zentraler Ort urbaner Zurschaustellung. In diesem speziellen Fall geht es um Werbung. Und trotz des Internet und der sozialen Medien, die alle existierende und nichtexistierende Werbung dieser Welt in die Feeds der User zu quetschen scheinen, bis den Algorithmen die Nähte platzen, ist das so.
Erstaunlicherweise war es nicht die Werbung an sich, sondern ihr Werber, der Aufmerksamkeit erregte. Was sehe ich also? Eine Person. Ein stoisches Gesicht, das in unendliche Fernen blickt. Es stellt den Habitus eines älteren Bruders zur Schau, der bereits Selbergedrehte qualmt, während man noch die erste Filterzigarette pafft. Der Rücken gerade, die Füße hüftbreit positioniert, das markante Kinn vorgereckt. Die Person drückt vor allem Sicherheit aus. "Ich bin da. Du bist nicht allein. Die Welt ist unsicher, verlass Dich auf mich", scheint sie zu sagen.
Wer ist die Person?
Heino Ferch.
Niemand geringeres als der deutsche Schauspieler, dessen Schicksal neulich so gebeutelt wurde, als er gleichzeitig Ehefrau und Geliebte verlor. Wie passiert so etwas nur, wie hält man das aus? Die Vermutung ist, dass Ferchs Gesichtsausdruck so stoisch bleibt wie auf der Litfaßsäule, das Kinn vorgereckt, dem Schicksal seelenruhig in die Augen schauend, wenn das Schicksal denn Augen hätte. Könnte ja sein. Ist auch eine interessante Vorstellung.
Doch ich schweife ab. Denn es blieb nicht bei dieser einen Sichtung. Nein, ich begegnete Ferch auf einer weiteren Litfaßsäule, in einer anderen Pose, anders bekleidet. Und auf einer weiteren.
Da wurde ich neugierig und suchte und fand. Es gab tatsächlich ein Verzeichnis der bestehenden Litfaßsäulen. Im Internet, selbstverständlich, Bücherein und Archive hatten ja nicht auf. Und weil man im Lockdown nichts anderes zu tun hat, habe ich sie im Norden Münchens alle zu Fuß abgeklappert. Überall war Heino Ferch präsent, überall. Einmal springt er sogar in die Luft, wo er zu schweben scheint, in Antigravität fixiert.
Es war, als würde er den Stadtraum ... beherrschen ist ein zu starkes Wort, das entspräche auch nicht seiner Gestik, seinem stoischen Gesicht, das von etwas informiert wird, das man als Mikroschauspiel bezeichnen könnte: Ausdruck durch Subtilität. Nein, Heino Ferch spannte den Stadtraum auf. Er war präsent und seine Präsenz verlieh dem Flaneur ein Gefühl von Sicherheit in einer unsicheren Welt. Die Sichtungen wurden fotografiert, auf der Litfaßsäulenkarte markiert und entsprechend digital archiviert. Mit Kolleginnen und Kollegen sprach ich über das Phänomen des urbanen Ferch, alle waren verblüfft über meine Beobachtungen. Alle. Und diese "Urbanistik nach Heino Ferch" versprach ein reichhaltiges Potpourri an empirischen Forschungsergebnissen. Schließlich folgten weitere Sichtungen in anderen Stadtteilen.
Doch es kam selbstverständlich anders, denn die Litfaßsäulen mögen ewig sein, ihre Werbung ist es nicht. Und bald entschwand Heino Ferch von den Werbeträgern, in einem Akt der Entrückung zog es ihn fort von dieser materiellen Welt. "I have to go now. My planet needs me." Womöglich gibt es eine Welt hinter der Welt, in der er nach wie vor auf uns blickt, Sicherheit ausstrahlt und leise wispert, "ich bin da, du bist nicht allein, die Welt ist unsicher, verlass dich auf mich."
Wir sehen uns auf der Leinwand, lieber Heino Ferch, für Ihren Beitrag zur pandemischen Urbanistik und zur Bewältigung von Krisen schulden wir Ihnen Dank.













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