Bavarität – Outtakes part 3

Ein Text, der nicht in "Bavarität" übernommen wurde, handelt von dem pandemischen Alltag der Quarantäne "dahoam" und der unmittelbaren Zeit danach, als sich Menschen wieder besuchen konnten. Das hat nicht in allen Fällen zur Zufriedenheit aller Beteiligten geklappt. Hierzu habe ich meine eigenen, launisch-launigen Beobachtungen im Juli 2020 aufgezeichnet. Zu diesem Zeitpunkt lebte ich noch in München. Der zentrale architektonische Schauplatz ist der Balkon:

Kriegsschauplatz Balkon
Auf den Balkonen dieser Stadt, wenn nicht sogar dieser Welt tobt der wahre Krieg. Ja, wohin sollte man sich auch hinverdrücken, im Lockdown? Heimlich oder verkleidet (etwa als Baum) im öffentlichen Raum frische Luft schnappen? Und es ist wahr, andernorts schicken Regierungen hoch militarisierte Geheimpolizisten ins Rennen, um friedlichen Demonstranten Gummigeschosse in den Rücken zu schiessen. Ganz zu schweigen von den Dramen in den Intensivpflegestationen.
Aber der Balkon, dort werden reale Konflikte des Alltags ausgetragen, an dem wir alle teilnehmen. Nebenan ist es die WG hinter der WG, eine verborgene Nachbarschaft, die die Abwesenheit der wahren Bewohner zum Partymarathon nutzt. Der Umstand an sich wäre ja nicht so schlimm. Üblicherweise ist den Mensch ja so gepolt, dass er sich entschuldigt, wenn er oder sie jemandem auf den Fuss tritt. In diesem Fall ist das Leid des Nachbarn, der durch den Partylärm zum unfreiwilligen Teilnehmer wird, eher genau das, was das Feuer der Feiersucht noch anheizt. Die Grausamkeit ist es, die das Mädchenkichern aushöhlt, in ihren jungen Herzen giftige Dunkelheit verbreitet und sich als Recht Auf Feiern äussert. Bis zur Anzeige.
Unten ist es die internationale Kochkunst, die etwas hervorgezaubert hat, das man als Infiniten Spargel bezeichnen kann, gleichermassen jedoch an Kunstharz erinnert. In der Schreinerei, in der ich einmal vor langer Zeit ein Praktikum absolvieren durfte, gab es einen gesonderten Raum dafür, und wenn man darin arbeitete, musste man eine Schutzmaske tragen. Der Geruch liess sich nicht mit menschlichen Begriffen beschreiben, es war so, als hätte Gott eine Frucht wie die Ananas aus Kunststoff gemacht. Man wurde nicht nur von den Dämpfen verrückt, der Mangel an Deutungsvermögen tat den Rest. So wie der Infinite Spargel. Bis zum Versprühen des Frischesprays.
Noch sind nicht alle Himmelsrichtungen entlang der balkonbestückten Fassade abgedeckt in diesem kleinen Bericht. Es gibt da noch einen Balkon. Hier residiert Camo-Lili. Ihren Umzug hat sie in einem Camo-Minirock mit Camo-BH und hochhackigen Holzabsatzstiefeletten absolviert, ebenso ihren Auszug. Übrig blieb nur ein demontiertes Waschbecken. Oft war sie auch nicht auf ihrem Balkon, dafür zumeist symmetrisch geordnet Männlein-Weiblein-Kombinationen. Man sieht vorm inneren Auge die Matratzen und daneben den Rotkäppchensekt und die Billyboy-Kondomboxen ("Extra Gross"). Um vier Uhr gesellt man sich nach dem Aktvollzug auf dem Balkon und kuckt ganz erstaunt, wenn noch weitere Bewohner auf ihren jeweiligen Balkonen auftauchen. Bis zum Foto, das der Hausverwaltung die individuelle Nutzungsänderung dokumentiert.
Wohnen die überhaupt hier?
Ja, eine gute Frage.
Womöglich ist sie eine Funktion des modernen, Kritiker sagen – entwurzelten Lebens, in der man individuell den Alltag, das "everyday life", wie es Beobachter des Stadtlebens gerne nennen, gestaltet. Diese Diversität ermöglicht eine sinnlich ausserordentliche Ausweitung des eigenen kulturellen Rahmens oder dessen, was man als Normalität betrachtet. Schonmal einen Woody-Allen-Film gesehen? Was ist da schon normal?

Photo: Balkone in München, 2021

„Bavarität – Krisenbewältigung im baukulturellen Raum“ ist erhältlich auf der Website des Verlags sowie im Buchhandel.  



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